Können Fische Menschen sein? – Richard Flanagans „Goulds Buch der Fische“

fischeVan Diemens Land – so heißt er damals noch, der Schauplatz dieser Entdeckungsreise in die Entstehung von Kultur. Die Umgebung, die dies einerseits so unwahrscheinlich macht, fordert andererseits eine solche Geburt geradezu heraus: eine Sträflingskolonie im 19. Jahrhundert.

Man schmeckt den bitteren Geschmack des Leides, riecht den Gestank des Wahnsinns, spürt die drückende Hitze der Macht und  sieht dennoch die Poesie im Irrsinn des über die Kolonie herrschenden  Kommandanten und betrachtet voller Verwunderung den Sträfling William Buelow Gould, der – zu seinem Glück – mit etwas Talent zum Zeichnen ausgestattet ist.

Seiner Geschichte und der der menschlichen Natur über die Kunst, über Fische nahe zu kommen, versucht Richard Flanagan in diesem Buch und es gelingt ihm mit einer Leichtigkeit, die fast verwundert angesichts der Bildgewaltigkeit seiner Sprache.

Hilflosigkeit, Verrohung, Verzückung – das sind die Worte, die hängen bleiben in einer Geschichte, die dahinfliegt, einen mitreißt, mitnimmt, zu Fischen und Menschen und dem, was sie verbindet.

Gedanken zum Leben – Paola Mastrocolas „Filippo und die Weisheit der Schafe“

40809469nEin Blick aus der Zukunft auf die Gegenwart – das ist die Erzählweise dieses Buches, das sehr lebendig ist, unterhaltsam und – man kann es wörtlich nehmen – gedankenverloren. In Gedanken verloren. Denn derer gibt es hier viele, die in alle Richtungen fließen, galoppieren, manchmal auch schleichen oder einfach geradewegs dahinspazieren. Und worüber? Über das Leben natürlich!

Es geht um Fil, um Giuliana, Jeremy und Guido, um Nisina und Stine, Fiona, Gheri und einen Duke. Kurz: Es geht um Menschen und die Welt, darum, wie wir denken und dann handeln – oder umgekehrt. Es geht um Eltern und ihre Kinder, um Wissen und Nichtwissen, um Vertrauen, um Stolz, Liebe, Lügen, Erwartungen und Zeit, ums Blätterangeln, Platanenbeobachten und darum, was passiert, als plötzlich eine Hornisse auftaucht. Klingt doch spannend, oder? Ist es auch!

Und ja, es kommen auch Schafe darin vor!

Ein Leben zwischen zwei Buchdeckeln – John Williams‘ „Stoner“

stonerEin Farmerssohn, der die englische Literatur für sich entdeckt – es könnte eine wahre Heldengeschichte sein. Aber das ist sie nicht. Sie ist glorreich, aber nicht heroisch; sie ist erschütternd, aber nicht bestürzend.

Das Leben, das hier Erwähnung, ja Bedeutung erfährt, beginnt am Ende des 19. Jahrhunderts, setzt sich unaufhörlich fort mit einer natürlichen Gleichmut, Konsequenz und Tragik, dass es einem fast ausweglos erscheint. Und William Stoner, dieser nüchterne, aber warme Charakter erkämpft sich durch stetes Pflichtbewusstsein einen Platz in der Welt.

Am Ende kann und wird man gern darüber streiten, ob dieses Leben glücklich oder unglücklich war. In jedem Fall ist William Stoner ein durchaus symphatischer Geist, dessen Gleichförmigkeit jedoch manchmal zu glatt auf mich wirkte. Vor allem im Vergleich zu den Ecken und Kanten der anderen Charaktere, die insgesamt echter anmuteten. Ich bezweifele die Konsequenz, mit der Stoner durch sein Leben geht.

Dennoch: Ich finde den Text ganz großartig geschrieben. Obwohl ich freilich nur die Übersetzung beurteilen kann, die mir durchaus lobenswert erscheint. Trotz oder gerade wegen der Schlichtheit, die hier die Sprache prägt, ist das Erzählte nahezu greifbar, fast spürbar: der Staub der trockenen Äcker, die Majestät der universitären Gemäuer, die stille Zweisamkeit zwischen Vater und Tochter, das Flüstern der Studenten. Die ruhige Sprache ist doch so voller Leidenschaft, dass ein Nachwirken der Geschichte unausweichlich ist.

Stoner erschien bereits Mitte der 60er Jahre, damals jedoch war dem Buch nur mäßiger Erfolg vergönnt. Aber hin und wieder kommt es zu Wiederentdeckungen in der Literatur. Welch glücklicher Umstand, dass ihm nun die Aufmerksamkeit zuteil wird, die einem Leben, das doch tatsächlich zwischen zwei Buchdeckel passt, zusteht!

Wenn einer eine Reise tut – Christian Krachts „Imperium“

imperium… dann kann er was erzählen.

Und wie! Christian Kracht erzählt die Geschichte des deutschen Aussteigers August Engelhardt, seines Zeichens überzeugter Nudist und Vegetarier der besonderen Art, nämlich: Kokovorist!

Was das bedeutet: sich ausschließlich von der Kokosnuss zu ernähren. Um diesen Lebensstil konsequent durchführen zu können, wandert August also nach Deutsch-Neuguinea (heute Papua-Neuguinea) aus, kauft eine Insel, gründet den „Sonnenorden“ und gibt sich seiner Leidenschaft hin.

Dies zu beschreiben, malt Kracht farbenfrohe Bilder, die immer größer werden und plötzlich anfangen, sich zu bewegen. Beim Lesen spielt sich buchstäblich ein innerer Film ab, dessen Regisseur der Autor ist. Die Beschreibungen sind unfassbar einfallsreich und manchmal schreiend komisch, seine Sprache dabei meisterhaft und der Stil geradezu virtuos: Sätze, die gleichzeitig Haken schlagen und sich im Kreise drehen, dann wieder schnurstracks geradeaus laufen und dennoch nie den Anschluss verlieren. Es bezaubert und verstört, erheitert und erschütternd zugleich. Dieses Buch ist ein Strudel, aus dem man erst wieder heraus kommt, wenn die letzte Seite ausgelesen ist.

Und was lehrt uns die Geschicht? Auch nudistischer Kokovorismus schützt vor Dummheit nicht!

Geschichte mal anders – Christina von Brauns „Stille Post“

stille_postStille Post – eigentlich ein Kinderspiel, bei dem das anfangs erdachte Wort am Ende zumeist ein ganz anderes ist. Denn es geht geflüstert von Ohr zu Ohr und erfährt dabei oft eine durch Missverstehen hervorgerufene Wandlung.

Dieses Prinzip liegt diesem Buch zugrunde, weil Christina von Braun davon überzeugt ist, dass eine Stille Post, die vornehmlich von ihren weiblichen Anverwandten – allen voran Hildegard Margis, ihrer Großmutter, die sie nie kennen gelernt hat – losgeschickt wurde und nun bei ihr angekommen ist.

Es ist ein Annäherungsversuch an die eigene Familiengeschichte während der Zeit des Nationalsozialismus, die zwar bereits vom männlichen Teil der Familie niedergeschrieben wurde – ihr Onkel Wernher von Braun hinterließ seine Biografie, ihr Großvater Magnus von Braun schrieb Memoiren – dabei jedoch eine Geschichte im Rückblick entstand, die aufgrund geschönter Erinnerung an Authentizität verliert.
Hier bedient sich die Autorin aus dem Fundus familiärer Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und erzählter Erinnerungen – betont aber vor allem das, was nicht gesagt, sondern verschwiegen wurde. Hinzu kommen Briefe, die sie an ihre Großmutter richtet, in denen sie versucht, die Stille Post Hildegards sowie auch die ihrer Mutter zu verstehen.

Es ist ein sehr persönliches Buch, in dem sie sich nicht nur mit ihrer Familie, sondern auch mit dem „psychischen“ Erbe und sich selbst auseinanderzusetzen versucht. Immer wieder thematisiert sie dabei die entsandte Stille Post – der Erzählstil ist, kurz gesagt, ausbaufähig.

Dennoch ist der Zugang, den Christina von Braun zu dem bewegendsten Kapitel deutscher Geschichte zu erschließen bemüht ist, lobenswert, will er doch die damit verbundene Emotionalität nicht verurteilen, sondern Verständnis dafür aufbringen. Die einzelnen Familienmitglieder werden in all ihren Facetten beleuchtet, ihre tagesaktuellen Aussagen kommentiert und hinterfragt.

Natürlich kann die Autorin nicht wissen, was in der Stillen Post losgeschickt wurde, ob es überhaupt je eine solche gegeben hat – dass aber etwas angekommen ist, bleibt am Ende des Buches unzweifelhaft.

Von edlen Abenteuern und wahrer Liebe – William Goldmans „Die Brautprinzessin“

brautprinzessinWas für ein rasendes Abenteuer!

Es ist alles dabei: eine schöne, dümmliche Bauerntochter, ein Riese nebst spanischem Fechtmeister und sizilianischem Superhirn, ein feister Prinz, dessen größte Leidenschaft die Jagd und dessen treuester Ergebener ein fieser, den Schmerz mit Hilfe von Foltermethoden auslotender Graf ist. Fehlt nur noch der ständig dazwischen
quasselende Erzähler, dessen Einschübe man zunächst mit einem mürrischen Seufzer hinnimmt, der sich jedoch jedes Mal – schwuppdiwupp – in Luft auflöst und in einem breiten Grinsen oder gespannter Wie-gehts-weiter-Stimmung endet.

Es wird gekämpft, gefochten und gefoltert, was das Zeug hält. Neben Liebesschwüren und Verfolgungsjagden geschehen Wunder über Wunder und, verdammt nochmal, niemals siegt die Gerechtigkeit.

Und das soll es dann gewesen sein? Das war’s und es war großartig.

Heinrich Mann – Schnappschüsse eines Lebens 2

„Meine Bildungsmittel waren französische Bücher, Krankheit, das Leben in Italien und zwei Frauen.“

Am 27. März 1871 erblickt Heinrich Mann in Lübeck das Licht der Welt, eine Welt, in der es durch die Stellung seines Vaters – jener ist dort Senator auf Lebenszeit – an nichts mangelt. Dennoch ist sein Lebensweg geprägt von Brüchen und gesundheitlichen Problemen.

Er verlässt die Schule vorzeitig und beendet auch die Buchhandelslehre in Dresden nicht. Auf das Volontariat im Fischer Verlag folgt bereits die Arbeit als freier Schriftsteller.

Häufige Kur- und Sanatoriumsaufenthalte vor allem in Italien verbessern seinen Gesundheitszustand nicht wesentlich. Dennoch arbeitet er ohne Unterlass an Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln sowie seinen Romanen.

Zeitlebens äußert sich Heinrich Mann zu den politischen Verhältnissen. Dies führt schließlich auch zum mehrere Jahre andauernden Bruch mit seinem nicht minder berühmten Bruder Thomas. Heinrich positioniert sich beispielsweise – ganz im Gegensatz zu Thomas – gegen die Kriegsbegeisterung des Ersten Weltkriegs.

Nachdem sich bereits 1910 seine geliebte Schwester Carla das Leben nahm, halten die 1920er Jahre weitere Schicksalsschläge für ihn bereit. 1923 stirbt seine Mutter, vier Jahre später wählt auch seine zweite Schwester Julia den Freitod. 1928 trennt er sich von seiner ersten Frau, mit der er eine Tochter hat.

Der Aufstieg der Nationalsozialisten zwingt ihn zur Flucht nach Frankreich, denn Heinrich Mann steht als einer der ersten bereits 1933 auf der Ausbürgerungsliste. Später emigriert er in die USA, wo er für Warner Brothers Drehbücher schreibt. Dort allerdings kann er nie wirklich Fuß fassen, ihn begleiten Geldnöte und Einsamkeit. Der Freitod seiner zweiten Frau belastet ihn zusätzlich sehr stark. Sein politisches Engagement und das Schreiben setzt er dennoch unermüdlich fort.

1950 – kurz vor seiner Rückkehr nach Deutschland – stirbt Heinrich Mann in Santa Monica.

heinrich mann

Auswahl der Publikationen Heinrich Manns, die neben den aufgeführten Romanen auch Essays, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel umfassen:

Haltlos (1894)
Im Schlaraffenland (1900)
Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy [Trilogie] (1903)
Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen (1905) – 1930 in Der Blaue Engel mit Marlene Dietrich in der Hauptrolle verfilmt
Der Untertan (1918)
Der Kopf (1925)
Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935)
Die Vollendung des Königs Henri Quatre (1938)
Lidice (1942)
Der Atem (1949)

Groucho und ich – Groucho Marx Autobiografie

groucho Der lange Zeit als witzigster Mensch geltende Groucho – eigentlich Julius Henry Marx – erzählt hier die Entstehungsgeschichte der wohl bekanntesten US-amerikanischen Komikercombo, den Marx Brothers. Man reist mit ihm und seinen Brüdern Harpo, Chico und Zeppo quer durch die USA, spürt die Ängste, leidet Hunger, hat ständig Geldsorgen und bezieht ordentlich Prügel.

Die Familien- bzw. seine ganz private Lebensgeschichte gibt er dabei nicht zum Besten, allenfalls streut er hier und da eine Anekdote ein, die vor allem sein Vater häufig hervorbrachte.

Spannend sind die Geschichten um das sogenannte Vaudeville. Um die letzte Jahrhundertwende war dieses zirkusartiges Unterhaltungstheater in den USA, vor allem aber in New York DER Renner!
Der Wortwitz ist inzwischen ein wenig in die Jahre gekommen. Liebhaber des Slapstick kommen aber allemal auf ihre Kosten. Eigentlich ist es so, wie es sein muss: Groucho erzählt aus seinem Künstlerleben und zwar ebenso wie er es auf der Bühne tun würde.groucho2

Durchaus beachtlich sind die Schlussbemerkungen des deutschen Übersetzers Sven Böttcher. An dieser Stelle möchte ich außerdem ausdrücklich auf die Fußnoten des Anhangs hinweisen. Bereits während des Lesens lohnt sich die Hin- und Herblätterei, denn sie sind in vielerlei Hinsicht wirklich erhellend.

Ein stilles Knallbonbon – Alan Weismans „Die Welt ohne uns“

SAM_0098Plötzlich macht es „Puff!“ und alle 6 Milliarden Menschen sind von der Erde verschwunden.

Wie reagiert die Natur darauf? Regeneriert sie? Degeneriert sie? Holt sie sich zurück, was der Mensch ihr abzwang? Wuchert nun Unkraut überall? Was geschieht mit unseren Hinterlassenschaften, den Gebäuden, den Fabriken, Tunnels, Brücken oder Autoreifen? Was genau bleibt von der Atomkraft zurück? Und von unserem Müll?

Anschaulich und ausgestattet mit reichlich Expertise geht Weisman dieses Gedankenexperiment an. Sehr klar, sehr nüchtern, aber durchweg spannend reist er vor und zurück in der Menschheits-, Welt- und Erdengeschichte. Detailreich, aber nicht -versessen betrachtet er innere und äußere Faktoren: Chemische Zusammensetzungen und Prozesse werden genauso in die Ausführungen aufgenommen wie beispielsweise meteorologische Vorgänge oder Verhaltensweisen von Tier und Mensch.

Dankenswerterweise verliert er sich sprachlich nicht in endloser Fachsimpelei. Seine sehr lesbaren Erläuterungen werben für mehr Verständnis, enthalten Ideen zur Verbesserung der momentanen Situation und richten zurückhaltende, aber doch eindringliche Apelle an die menschliche Verhaltensweise, ohne jedoch die Moralkeule gewaltsam zu schwingen.

Es ist ein eigenartig leises und unaufgeregtes Buch, das dennoch die Saat für Veränderung streut. Jetzt müssen wir sie nur noch angießen.